Jedes System erweist sich bei näherer Betrachtung als eine in sich gegliederte Gesamtheit von kleineren Systemen. Der Ansatz des Systemdenkens (engl.: Systems Thinking) befasst sich mit dem Verständnis und dem Gestalten komplexer Systeme und Entscheidungen. Damit stellt er einen essenziellen Teil des Systems Engineerings dar und hilft auch moderne, multidimensionale Systeme erfolgreich zu entwickeln. Mehrwert des Systemdenkens sind die verschiedenen Betrachtungs- und Darstellungskonzepte für die Komplexitätsabbildung. Sie helfen beim Verständnis von Wechselwirkungen und können verborgene Potentiale aufdecken.

Jeder Mensch selbst ist ein komplexes biologisches System mit vielen kleinen Systemen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit interagiert auch jeder Mensch täglich mit vielen Systemen, wie Familie, Geschäften, Organisationen. Und jedes technische Produkt wie ein Auto oder ein Smartphone stellen ein System dar. Mit Systems Engineering werden diese Systeme in Unternehmen realisiert.

Systemdenken als wesentlicher Bestandteil des Systems Engineerings

In der Produktentstehung hat sich die Systembetrachtung als Mittel der Wahl für die Darstellung komplexer Sachverhalte und Abhängigkeiten etabliert. Wie aber an vielen Stellen wie wissenschaftlichen Publikationen, Artikeln und Nachrichten deutlich wird, verändert sich die Produktentstehung zunehmend durch die Einflüsse der Digitalisierung. Mit zunehmender Komplexität der technischen Produkte stellt sich also die Frage, wie die Produktentstehung effektiver gestaltet werden kann. Systems Engineering ist dabei das Mittel der Wahl für ein ganzheitliches und durchgängiges Engineering – dem inbegriffen ist das Systemdenken, indem das Produkt als System verstanden wird. Herausforderung für das Engineering ist es somit auch zukünftige Veränderungen durch die Digitalisierung adressieren zu können.

Was bedeutet Systemdenken?

Wie jedoch ein System geschaffen wird, welches in einer gewünschten Situation nach den Vorstellungen des Entwicklers agiert, hängt im Wesentlichen von menschlicher Kreativität und gewonnenen Erkenntnissen ab. Die erforderliche menschliche Eigenschaft wird hier gemeinhin als Systemdenken bezeichnet. Zur Erinnerung: ein System ist ein begrenzter Ausschnitt aus der Realität, welches durch Systemelemente sowie Beziehungen (Relationen) zueinander gekennzeichnet ist. Systemdenken ist eine besondere Art und Weise, die Realität zu veranschaulichen. Der Ursprung geht zurück auf unterschiedlichste Disziplinen wie Biologie, Ökologie und Kybernetik. Grundlegend ist jedoch, in die Welt mit ihren Funktionsweisen Einsicht zu erlangen und sie besser verstehen zu können. Systemdenken unterscheidet sich deutlich von der traditionellen analytischen Sichtweise. Einige Probleme lassen sich besser durch analytisches Denken lösen und andere sind besser von der System- Sichtweise anzugehen. Die Kombination aus beiden Ansätzen ist essenziell, um unsere Umwelt auf ganzer Linie verstehen zu können.

Bei Systemdenken handelt es sich um ein interdisziplinäres Erkenntnismodell und Modellierungswerkzeug, welches Problemstellungen durch Systeme erklärt. Vor dem Hintergrund der Komplexitätsreduzierung werden multidimensionale Systeme besser verstanden und Entscheidungen können einfacher getroffen werden. Zurecht ist Systemdenken eine der Schlüsselkompetenzen des 21. Jahrhunderts.

Möglichkeiten der Systemabbildung

Verschiedene Ansätze der Systemabbildung ermöglichen die Darstellung von hierarchischen Strukturen. In dieser Hierarchie können diese wiederum Bestandteil von übergeordneten Supersystemen sein und eigene untergeordnete Subsysteme enthalten. Um die beschriebenen Sachverhalte gezielt abzubilden unterscheidet Ropohl – ein deutscher Professor und Technikphilosoph – zwischen hierarchischen, strukturalen und funktionalen Systemkonzepten. Das hierarchische Konzept folgt der Auffassung, dass die Elemente eines Systems wiederum als Systeme betrachtet werden können. Strukturale Konzepte zeichnen sich durch ein System als Ganzheit miteinander verknüpfter Elemente aus. Entsprechend dem funktionalen Konzept stellt das System eine sogenannte „Black-Box“ dar, welche durch bestimmte Zusammenhänge zwischen seinen Ein- und Ausgangsgrößen sowie Systemzuständen charakterisiert wird.

Die sechs grundlegenden Konzepte des Systemdenkens

Für den Umgang und das Lösen komplexer Probleme ist die Entwicklung und Förderung einer Systemdenkweise erforderlich. Abhilfe leisten die sechs grundlegenden Konzepte des Systemdenkens: Vernetzung, Synthese, Emergenz, Feedbackschleifen, Kausalität und Systemabbildung. Die Bausteine sind entscheidend für die Entwicklung einer Perspektive, wie die Welt aus der Systemperspektive zu betrachten ist. Zudem fördern sie die Fähigkeit divergent (Out-of-the-box) und kreativ zu denken.

Die Zwölf Thinking Tracks nach Bonnema

Im Kontext des Systemdenkens existieren eine Reihe Werkzeuge, die Systementwickler unterstützen, die Konsequenzen ihrer Entscheidungen zu überblicken. Besonders in der Produktentstehung sind diese von großer Relevanz. Der auf dem Gebiet des Design Engineerings tätige Professor GERRIT MAARTEN BONNEMA gibt diesen Werkzeugen eine Struktur in Form sogenannter Thinking Tracks. Sie geben dem Anwender einen einfachen Überblick über mögliche Betrachtungswinkel. Sie können unter anderem als Kreativitätshilfe, Checkliste und als Mittel zur Untersuchung der Auswirkungen von Designentscheidungen herangezogen werden, die in einem frühen Stadium der Produktentwicklung getroffen werden. Hierzu betrachten die Tracks das „System under design“ (SUD) im Kontext der eigenen Umwelt, geben Ansatzpunkte für neue Betrachtungsmöglichkeiten und fördern die Kreativität.
Zu den zwölf Thinking Tracks zählen:
Dynamic-, Feedback-, Specific-generic-, Operational-, Scales-, Scientific-, Decomposition-composition-, Hierarchical-, Project-, Life-cycle-, Safety- und Risk-Thinking.

12 Wege um ein System ganzheitlich zu betrachten

Durch das Anwenden der genannten Tracks entsteht ein vollständigeres Bild des zu entwerfenden Systems, des zu lösenden Problems, des Kontexts, der Beteiligten und der Umwelt. In der Praxis trägt eine abwechslungsreiche Kombination der Tracks dazu bei, sich schnell in ein Problem zu vertiefen und die wesentlichen Merkmale herauszustellen. Die Anwendung der Thinking Tracks lässt sich bildlich veranschaulichen, bei dem die Tracks auf einem chaotischen Weg durch den Raum wandern, wobei sie sich gegenseitig ergänzen, um ein umfassenderes und vollständiges Bild der gesamten Entwurfsumgebung zu schaffen.
Thinking Tracks sind besonders in der frühen Entwurfsphase von Nutzen, wenn weitreichende Entscheidungen auf der Grundlage begrenzter Informationen getroffen werden. Später, wenn mehr Informationen zur Verfügung stehen, ist der Spielraum für Änderungen begrenzt.

Fähigkeiten eines Systemdenkers

Systemdenken verbreitet sich gegenwärtig in vielen verschiedenen Bereichen und Branchen und bringt eine Ergänzung zur rein analytischen Denkweise mit sich. Für den erfolgreichen Einsatz von Systemdenken werden bestimmte Fähigkeiten benötigt. Studien legen nahe, dass Systemdenker Grenzen sehen und definieren, Systemsynergien verstehen und reduktionistische und ganzheitliche Standpunkte ausbalancieren können. Sie denken kreativ, überwinden Fixierungen und tolerieren Ambiguität. Zudem können Systemdenker neue Systeme und Konzepte schnell verstehen und berücksichtigen dabei nicht-technische Faktoren, die die Systemleistung beeinflussen und erkennen dabei auch Analogien und Parallelität zwischen Systemen. Sind Sie ein Systemdenker?

Sie finden dieses Thema spannend ? Dann möchten wir Ihnen folgende Literaturtipps ans Herz legen:

Finegold D., Notabartolo A.: 21st-Century Competencies and Their Impact: An Interdisciplinary Literature Review, 2016
Greene, M.: Systems Design Thinking: Identification and Measurement of Attitudes for Systems Engineering, Systems Thinking, and Design Thinking, Michigan, 2019

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Autor*in des Beitrags: Julian Tekaat Fraunhofer IEM
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