Die Einführung von Systems Engineering (SE) in Unternehmen ist ein umfassendes und anspruchsvolles Vorhaben. Forschung und Industrie betreiben viel Aufwand bei der Optimierung von SE-Prozessen und Methoden. Mindestens genauso wichtig ist jedoch ein passendes Change Management: Betriebe können so ihre Belegschaft von Beginn an mit einbeziehen und dafür sorgen, dass der gewählte SE-Ansatz im ganzen Unternehmen akzeptiert und nachhaltig gelebt wird. Wir sprechen mit Matthias Knoke, Leiter der Virtuellen Produktentwicklung bei Miele, und Lukas Bretz, Wissenschaftler am Fraunhofer IEM, über die Einführung von SE.

Herr Knoke, wann lohnt es sich, über die Nutzung von SE nachzudenken?

Matthias Knoke: Ich bin überzeugt, dass Systems Engineering jedem entwickelnden Unternehmen Vorteile verschaffen kann. Es stellt sich aber die Frage: Was bedeutet SE konkret für das zu entwickelnde Produkt und welche Aspekte des SE sind dazu hilfreich? Bei Miele haben wir zu Beginn unserer SE-Definition eine ausführliche Potenzialanalyse durchgeführt, um genau diese Fragen zu klären. Dabei haben wir festgestellt, dass wir einige SE-Ansätze zwar bereits nutzen, diese jedoch oft als Insellösungen verwendet werden. Wir arbeiten aktuell daran, diese Inseln zusammen mit neuen Ansätzen zu einem durchgängigen SE-Prozess zu verbinden. Gerade kleine und mittlere Unternehmen können natürlich auch ohne Durchgängigkeit bereits Mehrwerte schaffen. Das hängt ganz vom Einsatzzweck ab.

Lukas Bretz und Matthias Knoke im Gespräch.
Big Bang oder Knabberglück? Lukas Bretz (links, Fraunhofer IEM) und Matthias Knoke (Miele) im Gespräch über die Einführung von Systems Engineering im Unternehmen.
Foto: Fraunhofer IEM

Gibt es typische Einsatzzwecke oder muss das jedes Unternehmen für sich analysieren?

Lukas Bretz: Ja, es lassen sich Idealtypen beschreiben, die im Detail an das jeweilige Unternehmen angepasst werden müssen. Am Fraunhofer IEM haben wir verschiedene Idealtypen erarbeitet und sie auf Basis von 20 SE-Projekten überprüft. Wir unterscheiden zwischen vier wesentlichen Konzepten. Im einfachsten Fall werden SE-Methoden genutzt, um ein gemeinsames Bild der Aufgabe zu erarbeiten. Dazu ist keine Software notwendig. Weit verbreitet ist das Konzept der mechatronischen Skizze: statische Architekturen beschreiben das System und seine Schnittstellen mittels eines Modells. Die weiter fortgeschrittenen Konzepte umfassen auch Verhaltensmodellierung und die Simulation der Modelle. Je nach Bedarf können verschiedene dieser Konzepte auch in einem Unternehmen eingesetzt werden. Am Ende ist immer wichtig: Es gibt kein „One-Size-Fits-All“-SE.

Knoke: Bei Miele haben wir aufgrund der großen Vielfalt an Produkten und Systemen und den folglich sehr unterschiedlichen Projektkonstellationen Bedarf für alle vier Konzepte identifiziert. Damit trotzdem alle Aktivitäten zusammenpassen, erarbeiten wir zusammen mit unseren Projektpartnern ein Tayloring-Konzept. Dieses soll definieren, unter welchen Bedingungen Projekte welche SE-Ansätze und Methoden nutzen sollen. Kern ist aber eine für alle Ansätze gemeinsame Basis. Diese ist notwendig um Miele-weit ein einheitliches Verständnis und Vorgehen für Systems Engineering sicherzustellen, und das unter Berücksichtigung der vorhandenen PLM-Umgebung.

Systems Engineering wird aktuell in vielen Branchen stark diskutiert, von kleinen Maschinen- und Anlagenbauern bis hin zu großen OEMs. Warum fällt die Einführung von SE oft so schwer?

Bretz: SE betrifft das gesamte Unternehmen. Das gilt sowohl für fachliche Themen wie Methoden und Werkzeuge als auch für die Organisationstruktur selbst. Für eine erfolgreiche Einführung muss eine Vielzahl von Stakeholdern aus nahezu allen Unternehmensbereichen einbezogen werden. Außerdem gibt es strukturbedingte Nachteile: Großunternehmen kämpfen oft mit starren Strukturen und trägen Entscheidungswegen. Zudem sind hier Spezialistentum und Silo-Denken weit stärker ausgeprägt als im Mittelstand – beides wiederspricht dem Kern des SE, dem ganzheitlichen und durchgängigen Systemdenken. Kleine und mittlere Unternehmen im Gegenzug haben zwar die notwendige Flexibilität und mehr Generalisten, dafür fehlen hier oft die Ressourcen für ein großes SE-Einführungsprojekt.

Miele steht als Inhabergeführtes Unternehmen mit über 20.000 Mitarbeitern zwischen KMU und Konzernen. Herr Knoke, treffen diese Herausforderungen auch auf Miele zu?

Knoke: Durchaus. Wir haben erfahrene Mitarbeiter, die unsere Geräte als Ganzes verstehen, gleichzeitig haben die verschiedenen Produktbereiche sehr unterschiedliche Anforderungen, die nur mit viel Abstimmungsaufwand abzugleichen sind. Daher haben wir unser SE-Einführungsprojekt (SE4Miele) auch in einem Zentralbereich aufgesetzt und beziehen die Werke über Pilotprojekte mit unterschiedlichen Schwerpunkten ein. So erhalten wir Feedback von den Fachbereichen und erarbeiten Miele-weit anwendbare Methoden und Tools.

Ich bin überzeugt, dass Systems Engineering jedem entwickelnden Unternehmen Vorteile verschaffen kann. Es stellt sich aber die Frage: Was bedeutet SE konkret für das zu entwickelnde Produkt und welche Aspekte des SE sind dazu hilfreich?

Matthias Knoke (Miele)

Das klingt nach einem guten Vorgehen. Herr Bretz, können andere Unternehmen dies übernehmen?

Bretz: Prinzipiell ja, das Einführungsprojekt muss für die jeweilige Organisation passend strukturiert sein. In einem kleinen Unternehmen reicht hier oft ein Projektteam mit wenigen Mitgliedern. In größeren Unternehmen – und abhängig davon, wie schnell Änderungen im Arbeitsalltag eingeführt werden sollen – eignen sich andere Ansätze. Etwa der von Miele oder ein Projekthaus, in dem Experten aus den betroffenen Bereichen für einen definierten Zeitraum ausschließlich am Thema SE arbeiten. Innerhalb dieser Projektorganisation wird auch geplant, wie die SE-Organisation im Betrieb aussehen wird. Auch hier gibt es verschiedene sinnvolle Möglichkeiten.

Vier grundlegende Konzepte für die Einführung von Systems Engineering.
Grafik: Fraunhofer IEM

Nach dem Aufsetzen des SE-Einführungsprojekts folgt seine inhaltliche Gestaltung. Was ist hier besonders wichtig?

Knoke: Neben der Planung von Prozessen, Methoden und Tools ist das Change Management von besonderer Bedeutung. Der beste Prozess hilft niemandem, wenn er nicht akzeptiert und gelebt wird. Es ist typisch menschlich, auf große Veränderungen erst einmal mit Vorbehalten oder Ablehnung zu reagieren. Daher muss zunächst die Idee überzeugen und anschließend die Umsetzung immer wieder kleine, erreichbare Erfolge liefern. Ich bezeichne diese kleinen Erfolgsschritte gerne als „Knabberglück“. Dies hilft, das Team zu motivieren und kann auch in der bereichsübergreifenden Kommunikation gut genutzt werden. Hierbei sind konkrete Ergebnisse wichtiger als Machbarkeitsstudien und Konzepte. Insgesamt ist das Soziale beziehungsweise Zwischenmenschliche bei einem solchen Projekt sehr wichtig.

Da sind wir beim Stichwort Change Management angekommen. Herr Bretz, gibt es Aspekte, die beim Veränderungsmanagement für SE besonders zu beachten sind?

Bretz: Bei der Einführung von SE gilt es, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu überzeugen, zu befähigen und schließlich die SE-Lösung auszurollen und mit der Belegschaft zu verstetigen. Zu diesem Zweck sollten Unternehmen etablierte Ansätze des Change Management adaptieren. Allerdings halte ich einige dieser Ansätze für ungeeignet, da sie einen reinen Top-Down Ansatz vorschlagen.

Wenn das Ziel ein abteilungsübergreifendes Miteinander ist, die erfolgsabhängige Vergütung aber Silo-Denken begünstigt, ist das ein Widerspruch per se und die Bemühungen zur Einführung werden behindert.

Lukas Bretz (Fraunhofer IEM)

Für eine erfolgreiche SE-Einführung müssen aber sowohl Management, als auch Mitarbeiter von Beginn an überzeugt und mitgenommen werden. Hier kommen das von Herrn Knoke beschriebene Knabberglück und die interne Kommunikation ins Spiel. Parallel zu der inhaltlichen Erarbeitung des SE-Konzeptes gilt es, mögliche Hindernisse in der Organisation zu erkennen und zu beseitigen. Unangenehme Hindernisse sind das „nicht wollen“ oder „nicht dürfen“. In manchen Fällen reicht es hier, wenn SE-Projektleiter Überzeugungsarbeit leisten. In anderen Fällen müssen sie die organisatorischen Rahmenbedingungen hinterfragen und anpassen. Denn wenn das Ziel ein abteilungsübergreifendes Miteinander ist, die erfolgsabhängige Vergütung aber Silo-Denken begünstigt, ist das ein Widerspruch per se und die Bemühungen zur Einführung werden behindert.

Den organisatorischen Rahmen anzupassen heißt, neue Rollen zu schaffen und bestehende so zu überdenken, dass sie optimal zum unternehmensspezifischen SE-Konzept passen. Andere typische Hindernisse sind das „nicht wissen“ und „nicht können“. Hier sind Schulungen und Coachings für die Belegschaft oftmals zielführend. Für den Projekterfolg sind aber nicht nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wichtig, die später direkt Systems Engineering betreiben. Gerade mit der Unternehmens-IT ist für die SE-Einführung eine sehr intensive Zusammenarbeit erforderlich. Alle an der Produktentstehung beteiligten Bereiche müssen offen für Veränderungen sein. Dies beginnt bereits beim Marketing und umfasst auch unterstützende Bereiche wie die IT.

Ein weiterer Faktor für Erfolg oder Misserfolg des SE-Projekts ist die Anzahl der Neuerungen sowie Zeitpunkt und Geschwindigkeit, mit der sie eingeführt werden. Um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier nicht zu überfordern, können z.B. regelmäßige SE-Releases genutzt werden. So muss sich die Belegschaft immer nur auf kleinere Veränderungen einlassen. Zudem kann das Projektteam ein Release besser vorbereiten als einen „Big-Bang“.

Knoke: Ein weiterer Vorteil von Releases ist die bessere Abstimmung mit parallelen Organisations- und IT Programmen. Bei Miele werden regelmäßig die Releases des komplexen PLM-Programm mit den SE Release-Zyklen synchronisiert. Gerade für die neu einzuführenden IT-Systeme ist das eine große, aber auch absolut notwendige Herausforderung.

Auf was gilt es neben Change Management und Projektorganisation noch zu achten?

Bretz: Oft wird zunächst vergessen, dass im Einführungsprojekt neben Richtlinien und Prozessen bereits konkrete Inhalte erarbeitet werden müssen, etwa Referenzstrukturen für Anforderungsspezifikationen oder Architekturen. Für eine Anwendung von SE mit vielen Mitarbeitern sind solche Strukturen sehr wichtig, da Modelle sonst nicht miteinander vergleichbar, konsistent und kompatibel gehalten werden können. Auch das Entwickeln von Modellbibliotheken für Standard-Funktionen oder -Elemente ist häufig notwendig. Grundlage für die Anwendung von SE sind natürlich – neben der Grundlage des Systemdenkens – geeignete Methoden und Prozesse. Für Model-Based Systems Engineering sind zusätzlich Modellierungssprachen und Werkzeuge wichtig. In jedem dieser Bereiche gibt es zum Glück gute Vorarbeiten, auf die wir aufbauen können. Als Sprache greifen wir z.B. gerne auf CONSENS oder SysML zurück. CONSENS lässt sich besonders leicht lernen und anwenden, SysML wird durch IT-Werkzeuge gut unterstützt und bietet mächtige Anpassungsmöglichkeiten für das jeweilige Anwenderunternehmen. Und all diese Inhalte sollten natürlich optimal von einem Werkzeug unterstützt werden.

Knoke: Bei der Auswahl der SE-Werkzeuge müssen zwei Aspekte beachtet werden: Erstens müssen diese die geplanten Methoden und Prozesse optimal abbilden und unterstützen. Zweitens müssen die Werkzeuge zur PDM/PLM-Umgebung passen. Im Engineering setzt Miele auf die Dassault 3D-Experience Plattform als zentrales Element. Für die einzelnen SE-Anwendungsfälle prüfen wir daher sehr genau, ob wir Funktionalitäten der Plattform oder externe Werkzeuge mit Schnittstelle zur Integration und Durchgängigkeit nutzen.

Wie stellt Miele sicher, dass die erarbeiteten Inhalte auch wie geplant funktionieren, bevor sie eingeführt werden können?

Knoke: Wir nutzen die schon erwähnten Pilotprojekte um Methoden, Modellierungssprachen und Werkzeuge vor der Ausrollung zu testen. Durch verschiedene Projekte decken wir auch unterschiedliche Inhalte ab, je nach Art des Projekts. Für die Ausrollung werden wir schrittweise unseren Entwicklungsprozess um SE-Inhalte erweitern. Startpunkt wird das Anforderungsmanagement sein, welches wir im vergangenen und laufenden Jahr in mehreren Pilotprojekten anwenden und optimieren konnten. In Abstimmung mit den laufenden PLM-Aktivitäten versuchen wir den ganzheitlichen SE-Ansatz in für die Organisation verdaubare Häppchen zu schneiden, abzusichern und unternehmensweit einzuführen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Best Practice Einführung Kollaboration MBSE Organisation Prozesse

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Autor*in des Beitrags: Kirsten Harting Fraunhofer IEM
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