Den Entwicklungsprozess überdenken? Neue Tools ausprobieren? Wo Konzerne große Change Programme aufsetzen, fehlen kleinen und mittleren Unternehmen oft die Kapazitäten. Der nächste Liefertermin steht an, das Alltagsgeschäft geht vor. Dem Mittelständler ELHA-Maschinenbau Liemke KG ist es gelungen, neue Prozesse und ein neues Engineering-Tool direkt in einem laufenden Kundenprojekt vorauszudenken. Mit beachtlichen Ergebnissen und Potenzial für weitere Erfolgsgeschichten.

Ein kniffliger Kundenauftrag aus dem Bereich Automotive gab bei ELHA den Anstoß: Bei einer neuen Maschine für Tieflochbohrungen in Motorenanbauteilen sollte das Entwicklungsteam mit besonderer Aufmerksamkeit an die Fehlermöglichkeits- und -einflussanalyse (FMEA) herangehen. Denn: Auch bei Produkten des Sondermaschinenbaus macht sich eine zunehmende Steigerung der Systemkomplexität bemerkbar. In ihrer Entwicklung müssen viele Disziplinen, wie Maschinenbau, Elektrotechnik und Regelungstechnik eingebracht und aufeinander abgestimmt werden. Lösungsansatz ist ein Umdenken in den Entwicklungsabteilungen, weg vom fachspezifischen und hin zu einem abteilungsübergreifenden Arbeiten im Sinne des Systems Engineerings.

Marcel Renneke zeigt das SE-Tool auf seinem Tablet
Marcel Renneke arbeitet beim Werkzeugmaschinenhersteller ELHA am digitalen Engineering – und testete das Tool iQuavis.
Foto: Fraunhofer IEM

Skepsis gegenüber Engineering-Tools

Im Rahmen des Spitzenclusters it’s OWL hatte ELHA bereits erfolgreich Ansätze und Methoden des Model-Based Systems Engineering (MBSE) eingesetzt. Im vorliegenden Projekt wollte der Werkzeugmaschinen-Hersteller gemeinsam mit dem Fraunhofer IEM jedoch einen Schritt weitergehen. Um den Kundenwünschen noch besser gerecht zu werden, sollte kein klassisches FMEA-Tool eingesetzt werden. Stattdessen sollten alle Anforderungen frühzeitig festgelegt werden und damit vollständig digital über den gesamten Entwicklungsprozess nachvollziehbar sein. Auf Basis der Systemarchitektur sollte dann die FMEA durchgeführt werden. Model-Based Systems Engineering par excellence!

ELHA entschied sich für den Einsatz eines eher unbekannten Werkzeugs aus Japan: iQUAVIS. „Bisher herrschte eine gewisse Skepsis gegenüber den uns bekannten MBSE-Tools. Viele Programme sind aufwendig in der Integration. Außerdem müssten Mitarbeiter erst einmal umfangreich geschult werden, um sie auch effizient nutzen zu können. Beim Tool iQuavis hatten wir das Gefühl, ohne großen Aufwand starten zu können “, erläutert Hans-Georg Liemke, Geschäftsführer ELHA-Maschinenbau Liemke KG.

Diese Herausforderungen teilen die ELHA-Ingenieure mit anderen mittelständischen Entwicklungsabteilungen, wie die Erfahrung des Spitzenclusters it’s OWL zeigt. Insgesamt 44 Transferprojekte haben sich hier seit 2012 erfolgreich mit Systems Engineering beschäftigt. In puncto Software-Unterstützung war dies oftmals nicht ganz einfach: Besonders im hiesigen Maschinen- und Anlagenbau sind die Anforderungen an die Werkzeuge immer unterschiedlich und – im Vergleich zum Konzern – tatsächlich oft bescheiden.

Entwicklungsabteilungen kleiner und mittlerer Unternehmen benötigen meist gar nicht die gesamte Bandbreite an Werkzeugfunktionen. Die Anschaffung eines hochkomplexen, teuren Tools sollte also kritisch geprüft werden. Außerdem sind viele Werkzeuge mit hohem Schulungsaufwand verbunden. Das Tool sollte also intuitiv und selbsterklärend sein, damit es ‚on the fly‘ in die bestehenden Prozesse integriert werden kann.

Werkzeug gemeinsam mit mittelständischer Industrie entwickelt

Das Fraunhofer IEM, dass das Thema Systems Engineering im Spitzencluster it’s OWL verantwortet, ging also auf die Suche nach einem Werkzeug, dass die Prinzipien des modellbasierten Entwickelns auf pragmatische Weise digitalisiert und auch mittelständischen Unternehmen durchgängiges Entwickeln ermöglicht. Am Ende steht eine erfolgreiche Kombination von Tool und Methode: Bereits Ende 2016 integrierten die Wissenschaftler*innen einen ersten MBSE-Prototypen der etablierten Methode CONSENS in das cloud-gestützte Projektmanagement-Werkzeug iQUAVIS des japanischen Softwareherstellers ISID. Bis heute wurde die Lösung vielen Unternehmen vorgestellt, intensiv diskutiert und in Piloten angewendet.

Für uns essentiell war, dass wir das Arbeiten mit der Software größtenteils autodidaktisch und intuitiv gelernt haben. Von Beginn an hat das Werkzeug unseren Prozess also nicht verzögert, sondern unterstützt.

Marcel Renneke (ELHA-Maschinenbau Liemke KG)

ELHA integrierte die Software-Lösung tatsächlich „on the fly“ in sein Projekt. Von der initialen Strukturierung des Projekts über die Anforderungserhebung hin zur Systemspezifikation und Ableitung der FMEA – alle Entwicklungsschritte und Ergebnisse wurden digital hinterlegt. Die Software ermöglicht es mehreren Mitarbeiter*innen, gleichzeitig am Modell zu arbeiten. Die Parameter der FMEA standen zu einem frühen Zeitpunkt der Entwicklung zur Verfügung und konnten regelmäßig mit dem Auftraggeber abgestimmt werden. „Für uns essentiell war, dass wir das Arbeiten mit der Software größtenteils autodidaktisch und intuitiv gelernt haben. Von Beginn an hat das Werkzeug unseren Prozess also nicht verzögert, sondern unterstützt“, so Marcel Renneke, Entwicklungsingenieur bei ELHA-Maschinenbau Liemke KG.

Two Pillars: Ausgründung mit dem Tool iQuavis

Die heutige Software-Lösung iQUAVIS wurde in Kooperation mit ISID und dem Knowhow des Fraunhofer IEM kontinuierlich weiterentwickelt. Seit 2018 arbeitet das Unternehmen Two Pillars, eine Ausgründung des Fraunhofer IEM, daran, iQuavis gezielt mit kleinen und mittleren Unternehmen in der Praxis umzusetzen.

Best Practice MBSE Systemmodell Tools

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Autor*in des Beitrags: Kirsten Harting Fraunhofer IEM
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